Protrusion

In der Zahnmedizin bezeichnet Protrusion in erster Linie das Vorstehen von Zähnen oder Kieferabschnitten nach vorne, meist im Bereich der Frontzähne. Der Begriff wird sowohl für die Zahnstellung (z. B. protrudierte Schneidezähne) als auch für Bewegungsrichtungen des Unterkiefers (protrusive Bewegung, also Vorschubbewegung) verwendet. Für Patientinnen und Patienten ist meist die sichtbare Ausprägung eines „vorstehenden Gebisses“ oder „Hasenzähne“ von Bedeutung, medizinisch spricht man dabei häufig von einer Protrusion der Frontzähne oder einem Protrusionsbiss.

Definition und Formen

Bei einer dentalen Protrusion stehen vor allem die Frontzähne (meist im Oberkiefer, manchmal auch im Unterkiefer) deutlich nach vorne geneigt oder verschoben. Sie ragen im Seitenprofil weiter nach vorne als üblich und können die Lippenkontur und das Gesichtsprofil beeinflussen. Man unterscheidet:

Dentale Protrusion: Die Zähne selbst sind innerhalb des Kiefers nach vorne gekippt oder verschoben, der Kieferknochen an sich ist jedoch normal entwickelt. Das Problem liegt im Zahnbogen, nicht im gesamten Kiefer.

Skelettale Protrusion: Der Kieferknochen (häufig der Oberkiefer) ist im Verhältnis zum übrigen Gesicht nach vorne verlagert oder zu stark gewachsen. Die Zähne können dabei normal im Knochen stehen, wirken aber durch die Lage des Kiefers protrudiert.

Protrusion im funktionellen Sinn: In der Funktionsdiagnostik beschreibt Protrusion die Bewegung des Unterkiefers nach vorne, etwa wenn der Zahnarzt bei einer Funktionsanalyse oder bei der Herstellung von Zahnersatz „protrusive Bewegungen“ erfasst.

Ursachen und Risikofaktoren

Die Entstehung einer Protrusion ist meist multifaktoriell. Zu den typischen Ursachen zählen:

Genetische Faktoren: Form und Größe von Kiefern und Zähnen werden stark vererbt. Wenn Oberkiefer und Unterkiefer in Größe und Form nicht optimal zueinander passen oder die Zähne zu groß für den vorhandenen Kiefer sind, kann dies zu Platzmangel und Ausweichen der Frontzähne nach vorne führen.

Fehlgewohnheiten im Kindesalter: Lange andauerndes Daumenlutschen, Nuckeln an Schnullern oder Flaschen, Lippenbeißen oder Zungenpressen gegen die Schneidezähne können die Frontzähne nach vorne drücken. Auch eine dauerhaft offene Mundhaltung oder Mundatmung (zum Beispiel bei vergrößerten Mandeln oder Adenoiden) verändert die Muskelkräfte und begünstigt Protrusion.

Falsches Schluckmuster: Beim sogenannten infantilen oder offenen Schluckmuster wird die Zunge beim Schlucken nach vorne zwischen oder gegen die Zähne gedrückt. Dauerhaft kann dies den Zahnbogen nach vorne und zugleich auseinanderdrängen.

Früher oder später Zahnverlust: Gehen Milchzähne zu früh verloren, können bleibende Zähne ungünstig in zu engen Raum durchbrechen und sich nach vorne ausrichten. Umgekehrt kann ein sehr später Verlust von Milchzähnen oder Störungen beim Durchbruch ebenfalls zu Stellungsanomalien beitragen.

Skelettale Fehlentwicklungen: Wenn der Oberkiefer im Verhältnis zum Unterkiefer nach vorne verlagert ist (skelettale Klasse-II-Situation), erscheinen die oberen Frontzähne oft stark protrudiert, selbst wenn sie im Knochen korrekt stehen. Wachstumsstörungen, Traumata im Wachstumsalter oder Fehlfunktionen des Kausystems können hier eine Rolle spielen.

Einfluss von Zähnen und Zahnersatz: Unpassender Zahnersatz, fehlende Zähne oder ungünstig gestaltete Füllungen können die Bisslage beeinflussen und im Verlauf zur Verlagerung einzelner Zähne beitragen. Dies ist typischerweise ein langsamer Prozess.

Symptome und Auswirkungen

Hauptmerkmal ist das sichtbare Hervortreten der Frontzähne oder des Oberkiefers. Häufig klagen Betroffene über:

Ästhetische Beeinträchtigung: Das Lächeln und das Profil können als „vorstehend“ oder „unharmonisch“ empfunden werden. Die Lippen schließen sich eventuell nur unter Anstrengung; manchmal bleiben die vorderen Zähne auch bei geschlossenem Mund leicht sichtbar.

Funktionelle Probleme: Je nach Ausprägung kann der Biss ungünstig sein. Bei deutlich protrudierten Oberkieferfrontzähnen kann der Unterkiefer in der Schlussbisslage „zurückgedrängt“ wirken. Das kann zu erhöhter Belastung bestimmter Zähne, Kaumuskelverspannungen oder Kiefergelenksbeschwerden beitragen.

Verletzungsgefahr: Stark vorstehende obere Schneidezähne sind bei Stürzen oder Unfällen (zum Beispiel beim Sport) stärker gefährdet, abzusplittern, zu brechen oder ausgeschlagen zu werden. Kinder mit Protrusion haben daher ein höheres Risiko für Frontzahntraumata.

Lautbildung und Sprache: In manchen Fällen können S-Laute und andere Zischlaute verändert klingen, vor allem wenn zusätzlich Lücken oder ein offener Biss bestehen. Eine deutlich veränderte Zungenlage kann die Aussprache beeinflussen.

Mundschluss und Atmung: Wenn die Lippen nicht entspannt schließen, neigen manche Betroffene zur Mundatmung. Das kann langfristig die Mundschleimhaut und die Zähne belasten, etwa durch vermehrte Trockenheit und erhöhtes Kariesrisiko.

Diagnose

Die Diagnose wird in der Regel durch eine Zahnärztin oder einen Kieferorthopäden gestellt. Sie umfasst:

Klinische Untersuchung: Beurteilung von Zahnstellung, Bisslage (Okklusion), Lippenverschluss, Profil und Gesichtsproportionen. Dabei wird auch geprüft, ob andere Fehlstellungen wie Engstände, Kreuzbisse oder offener Biss vorliegen.

Röntgendiagnostik: Panoramaschichtaufnahmen (OPG) geben einen Überblick über alle Zähne und Keimanlagen. Für eine genaue kieferorthopädische Analyse wird häufig ein Fernröntgenseitenbild (FRS) erstellt, mit dem skelettale Verhältnisse (Lage von Ober- und Unterkiefer) und Zahnachsen vermessen werden können.

Fotodokumentation: Fotos von vorne, der Seite und intraorale Aufnahmen dokumentieren das Ausgangsbild und dienen der Planung und Verlaufskontrolle.

Kiefermodelle oder digitale Scans: Abformungen oder 3D-Scans helfen, Zahnstellung und Platzverhältnisse präzise zu erfassen und Simulationen von Behandlungsoptionen durchzuführen.

Untersuchung von Funktion und Gewohnheiten: Beurteilung des Schluckmusters, der Lippen- und Zungenfunktion sowie Fragen zu Lutschgewohnheiten, Mundatmung und Sprechmustern, oft in Zusammenarbeit mit Logopädie oder HNO-Heilkunde.

Behandlungsmöglichkeiten

Die Therapie richtet sich nach Ursache, Ausprägung, Alter der Patientin oder des Patienten und individuellen Wünschen. Grundsätzlich stehen folgende Ansätze zur Verfügung:

Kieferorthopädische Behandlung: Bei rein dentaler Protrusion lassen sich die Frontzähne meist mit Zahnspangen in eine günstigere Position bewegen. Je nach Situation kommen festsitzende Apparaturen (Brackets), durchsichtige Schienen (Aligner) oder funktionskieferorthopädische Geräte infrage. Ziele sind die Aufrichtung und Rückverlagerung der Frontzähne, das Schaffen von ausreichend Platz im Zahnbogen und die Harmonisierung des Bisses.

Bei skelettal bedingter Protrusion im Wachstumsalter können Wachstumslenkungsgeräte eingesetzt werden, zum Beispiel funktionskieferorthopädische Apparaturen, die das Wachstum von Unter- und Oberkiefer in ein günstigeres Verhältnis bringen. Je früher im Wachstum begonnen wird, desto größer sind die Möglichkeiten.

Bei Erwachsenen mit ausgeprägter skelettaler Fehlstellung kann eine kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung notwendig sein. Hier werden Zähne zunächst mit Spangen in möglichst ideale Position gebracht und anschließend Kieferkorrekturoperationen durchgeführt, die den Kieferknochen in eine neue, harmonischere Lage versetzen.

Myofunktionelle Therapie und Logopädie: Wenn Zungen- oder Lippenfehlfunktionen (zum Beispiel falsches Schlucken, Zungenpressen, Mundatmung) eine Rolle spielen, ist eine begleitende myofunktionelle Therapie sinnvoll. Spezielle Übungen helfen, die Zungenlage, Lippenkraft und Nasenatmung zu normalisieren. Dies unterstützt die kieferorthopädische Behandlung und stabilisiert das Ergebnis.

Korrektur von Gewohnheiten: Daumenlutschen, Schnullergebrauch über das Kleinkindalter hinaus, Lippenbeißen oder ständiges „Spielen“ mit der Zunge sollten sanft, aber konsequent abgewöhnt werden. Eltern erhalten hierzu Beratung, gegebenenfalls unterstützt durch Kinderarzt oder Logopädie. Im Erwachsenenalter können Stressbewältigung und das Bewusstmachen von Press- und Gewohnheitshaltungen helfen.

Zahnerhaltende und prothetische Maßnahmen: In leichten Fällen oder bei Erwachsenen, die aus verschiedenen Gründen keine umfassende KFO-Behandlung wünschen, können geringfügige Korrekturen durch Kompositaufbauten, Veneers oder Kronen ästhetische Verbesserungen bringen. Dies sollte jedoch sorgfältig geplant werden, um nicht unnötig Zahnhartsubstanz zu opfern, und ersetzt eine stabile funktionelle Korrektur nur begrenzt.

Sportlicher Schutz: Um traumatische Schäden an protrudierten Frontzähnen zu vermeiden, kann ein individuell angepasster Sportmundschutz sinnvoll sein, besonders bei Risikosportarten (Handball, Basketball, Hockey, Kampfsport).

Verlauf und Nachsorge

Nach erfolgreicher Behandlung ist eine Retentionsphase wichtig. Die Zähne haben die Tendenz, wieder in ihre ursprüngliche Position zurückzuwandern, insbesondere wenn ursächliche Faktoren wie Zungenpressen oder Mundatmung nicht ausreichend korrigiert sind. Retainer (festsitzende Drähte an der Innenseite der Frontzähne oder herausnehmbare Schienen) stabilisieren das Ergebnis. Regelmäßige Kontrollen bei Kieferorthopädie und Zahnärztin oder Zahnarzt prüfen Bisslage, Halt der Retainer und Mundgesundheit.

Im Wachstum befindliche Kinder sollten in bestimmten Abständen kontrolliert werden, da sich Kiefer und Zähne dynamisch verändern. Frühzeitige Korrekturen können spätere, komplexere Eingriffe verhindern oder erleichtern. Bei Erwachsenen ist langfristige Stabilität stark von der konsequenten Retentionsphase und vom Abstellen ungünstiger Gewohnheiten abhängig.

Prävention

Völlig verhindern lässt sich eine genetisch bedingte Tendenz zu Protrusion nicht. Es gibt jedoch Maßnahmen, um das Risiko oder das Ausmaß zu verringern:

Früherkennungsuntersuchungen: Regelmäßige Kontrollbesuche in der Kinder- und Jugendzahnheilkunde ermöglichen das frühzeitige Erkennen von Lutschgewohnheiten, Engständen, Bissanomalien und Mundatmung. Bei Auffälligkeiten kann die Überweisung zur Kieferorthopädie erfolgen.

Begrenzung von Schnuller- und Daumengewohnheiten: Schnuller sollten idealerweise im dritten Lebensjahr abgewöhnt werden, Daumenlutschen möglichst früher. Positive, spielerische Methoden sind oft erfolgreicher als Strafen oder Druck.

Förderung der Nasenatmung: Chronische Nasenatmungsbehinderungen (z. B. durch vergrößerte Mandeln, Adenoide oder Allergien) sollten durch Kinderärztin oder HNO-Facharzt abgeklärt und behandelt werden. Eine freie Nasenatmung unterstützt die normale Kieferentwicklung.

Ausgewogene Gebissentwicklung: Frühe Milchzahnkaries und frühzeitiger Milchzahnverlust können Fehlstellungen begünstigen. Gute Mundhygiene, fluoridierte Zahnpasten, zahngesunde Ernährung und regelmäßige zahnärztliche Kontrollen sind deshalb wichtig.

Wann zum Zahnarzt oder Kieferorthopäden?

Eine Abklärung ist sinnvoll, wenn die Frontzähne sichtbar stark nach vorne stehen, die Lippen im Ruhezustand nicht entspannt schließen können, häufig über vorstehende Zähne gespottet wird oder wenn es wiederholt zu Verletzungen der Frontzähne kommt. Bei Kindern sollte man aufmerksam werden, wenn lange und intensiv Daumen gelutscht wird, der Schnuller über das Kleinkindalter hinaus benutzt wird, der Mund häufig offen steht, geschnarcht wird oder das Gesicht ein „langes, schmaleres“ Erscheinungsbild annimmt. Auch bei Schmerzen im Kiefergelenk, Kopf-/Nackenschmerzen in Verbindung mit auffälligem Biss oder wenn die Ästhetik stark belastet, ist ein kieferorthopädischer Beratungstermin sinnvoll.

Prognose

Mit moderner Kieferorthopädie und gegebenenfalls ergänzenden Therapien lässt sich eine Protrusion in den meisten Fällen gut behandeln. Besonders günstig sind die Aussichten, wenn die Diagnose früh erfolgt und das Wachstum gezielt genutzt werden kann. Aber auch bei Erwachsenen sind deutliche Verbesserungen möglich. Entscheidend für langfristigen Erfolg sind eine sorgfältige Diagnostik, individuell angepasste Therapie, konsequente Retention und das Mitwirken der Patientinnen und Patienten bei der Umstellung ungünstiger Gewohnheiten. So lässt sich in vielen Fällen ein harmonisches Zusammenspiel von Funktion, Ästhetik und langfristiger Mundgesundheit erreichen.

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